Thursday, February 16, 2006

Unübersichtlichkeit

Vielleicht hängt ja doch alles irgendwie miteinander zusammen. Das Wissen um die Unübersichtlichkeit der Zusammenhänge, um die Schwierigkeit, zwischen Ursachen und Wirkungen zu unterscheiden, die Gefahr der Verallgemeinerungen und Übertreibungen, - all dies sollte einen nicht davon abhalten, sich gelegentlich Gedanken zu machen.

Heutiger Versuch: Was hat der Karikaturenstreit mit einer Telefonabstimmung auf N24 zu tun?
Sah gerade die Auswertung der jüngsten Frage, die den Zuschauern gestellt wurde, auf dass sie per 49 Cent teuren Anruf ihre Meinung kund und zu wissen tun. "Sind Sie der Meinung, dass die Polizei im Fall der entführten S***** versagt hat?" 93,5% der sich an der Umfrage beteiligenden Zuseher bejahten die Frage; überwältigender Sieg, aufhörenlassende Anklage, Anflug ehrlicher, gerechter Emotion.

Es mag ja auch durchaus sein, dass wir, also wir alle, wir im Westen, in einer Demokratie lebenden, die Freiheit, die wir besitzen, nein, die Freiheiten, wie man so sagt, die wir besitzen, gar nicht wirklich zu schätzen wissen, solange wir nicht irgendwann mal eine Diktatur von innen kennen gelernt haben. Also so eine richtige, nicht so eine Diktatur light wie die in der DDR, sondern eher so etwas vom Schlage Burma, China oder Nordkorea. Wir wissen nun einmal nicht, wie es ist, dass man irgendwann gar nicht mehr auf die Idee kommt, seine Meinung frei zu äußern, weil man im Wissen darin aufgewachsen ist, dass ein einzelner falscher Satz (oder ein richtiger Satz am falschen Ort zur falschen Zeit) einen Jahre des Lebens oder auch das ganze kosten können. Wir wissen nicht, wie es ist, wenn das Aufbegehren, das für uns hier so selbstverständlich, nein, so zwingend, so logisch erscheint, einfach erlischt, wie all diese subversiven Gedanken, die wir von jenen fordern, irgendwann gar nicht mehr gedacht werden, weil sie ihnen aberzogen wurden wie schlechte Angewohnheiten, Nägelkauen und Daumenlutschen.

Nein, wahrscheinlich können wir das nicht wissen und wahrscheinlich ist es auch gar niemandem vorzuwerfen, dass man sich darüber nicht täglich Rechenschaft ablegt, vor dem Schlafengehen oder auf der Fahrt ins Büro.

Nur eines ist doch zu bedenken: Wenn vielleicht doch ein paar mehr Menschen dazu übergingen, sich einmal, nur ein paar kurze Male, oder vielleicht auch einmal etwas länger, vor Augen zu halten, welcher ungeheuren Illusion wir inzwischen erlegen sind, wenn wir glauben, dass wir es so viel besser hätten.

Nein, wir haben keinen Pol Pot, kein Politbüro, keine Zensur, keine Mullahs, keinen Revolutionsrat. Wir sind frei in Gedanken und Äußerungen. Wir dürfen denken, was wir wollen und sagen, was wir wollen, ja, wir dürfen, weil es freie Zeitungen gibt, freies Fernsehen, freies Radio und freies Internet, sogar wissen dürfen wir, was wir wollen. Theater dürfen spielen, was sie wollen, Kino wird gemacht, solange irgendjemand das Geld dafür hat und in Bibliotheken werden auch noch Bücher bestellt, wenn die Städte es sich noch leisten können. Wir sind nicht nur gebildet, sondern trotz PISA auch geschult in der Demokratie und im Umgang mit unseren Freiheiten, auch wenn wir sie gar nicht alle zu schätzen wissen.

Die spannende Frage, die sich aber doch aufdrängt ist nun: Was machen wir mit der Freiheit? (Nein, ich bin noch nicht bei den Karikaturen). Zum Beispiel dies: Wir geben einem Münchner Nachrichtensender unser an all den schrecklichen Steuergeldern vorbeigespartes Geld, um der Welt mitzuteilen, was wir zuvor in einem 90sekündigen Beitrag ebenjenen Senders über die Arbeit der Dresdner Polizei gelernt haben. Keine Frage: Wir nehmen unser staatsbürgerliches Recht wahr, die Meinung, die wir uns aufgrund einer eingehenden Prüfung und Bewertung der uns vorliegenden freien Informationen gebildet haben, frei zu äußern; was soll daran verkehrt sein?

Was daran verkehrt ist? Alles. Wir wissen nämlich nichts. Gar nichts. Was wissen wir über die Ermittlungen? Was wissen wir über den Täter, das Opfer, die Familie, die Polizisten? Das, was uns der Münchner Nachrichtensender und vielleicht noch ein paar schnell zusammengezimmerte Nachrichtenbrocken woandersher als Neuigkeiten auf den Bildschirm oder den Tisch knallen. Doch die Illusion ist so mächtig, weil wir glauben wollen, dass all diese Informationsschnipsel nicht nur wahr sind, sondern wirklich etwas bedeuten. Dass sie uns vor allem immer wieder aufs Neue darin bestätigen, dass wir ja frei sind, zu wissen. Und dass wir, dank modernster Technik der Zuschauerbefragung in der Lage sind, unseren eigenen Senf in diese Meinungsflut schütten zu dürfen. Und was ist das Ergebnis?: 100% der Zuschauer sehen, dass 93,5% der Anrufer (nur zu leicht verwechselt mit einem repräsentativen Ausschnitt der Zuschauer oder gar der Bürger insgesamt) der Meinung sind, dass die Dresdner Polizei versagt hat Punkt Nicht etwa ein bisschen versagt oder vielleicht auch mehr, sondern ganz und gar, völlig Punkt

Dieserlei Fragen werden uns aber jeden Tag gestellt, überall. Sat1: UEFA-Cup – Wer kommt weiter?; Kabel 1: Rauchverbot auch bei uns?; Pro Sieben: Wer ist der beste Live-Act? Stunden nach der letzten Bundestagswahl ging es wieder los mit der Sonntagsfrage. Wen würden Sie wählen, wenn ...?

Wir dürfen unsere Meinung äußern, doch die interessiert nur noch dann, wenn wir voten. Wir haben völlige Votingfreiheit, so lautet die aktualisierte Fassung des Artikels 5 des Grundgesetzes (und wo wir dabei sind eine Quizfrage: Wie lautet der 2. Absatz des Artikels 5? Na? Und? Nein, Auflösung am Schluss, nach der Werbung, damit Sie per SMS mitvoten können.)

Und die Karikaturen? Wie passen die darein?

Die passen da sehr gut rein. Weil die Meinungsdiktatur, die Berlusconisierung ohne Berlusconi, inzwischen sowieso überall stattgefunden hat und wir unsere Meinung und Verantwortung sowieso lieber anonym per SMS einem beliebigen Privatsender anvertrauen als ernsthaft zu diskutieren. Die bei unseren staatlichen und privaten Medien abgelegte Verantwortung brachte uns eines: Überdruss, Langeweile, ennui. Eingelullt durch die ewig gleichen Sonntagsfragen, Fragen zum Liebesleben Verona Pooths, zum Kampf zwischen Britney Spears und Christina Aguilera, zwischen Hoeneß und 1860, zur Frisur Angela Merkels und zu den Oscar-Aussichten der Scholls, eingelullt von all diesem Schwachsinn, diesem folgenlosen Bemühen, sich der eigenen demokratischen Entscheidungsfreiheit immer wieder aufs Neue zu versichern, indem man wenigstens zu all diesem Ausbund an Banalität etwas sagt und seine Meinung ganz weit oben auf der Spitze dieser Pyramide aus dem kulturellem Müll des beginnenden 21. Jahrhunderts platzieren kann, braucht es eben ab und zu etwas Drastisches.

Denn ab und zu scheint es aus all diesen Gründen das dringende Verlangen danach zu geben, sich der Grenzen dieser immensen Freiheit, die wir genießen doch noch mal zu vergewissern. Da wir uns selbst aber ja alles vorhalten können, alles erlauben können, ja, wir es uns sogar leisten können, die Menschen darüber zu befragen, ob Mike oder doch lieber Vanessa Superstar werden dürfen, müssen wir die Grenzen dort suchen, wo es noch Grenzen gibt: Hey, wie wäre es mit dem Islam?
Komme jetzt keiner mit dem Einwand, dass nicht wir es waren, sondern die Dänen, oder damit, dass so etwas in Deutschland, Frankreich oder Italien nicht hätte passieren können. Ein Minister in Italien ließ die Karikaturen bereits auf T-Shirts drucken.

Nicht, dass wir die Freiheit haben, die in den meisten islamischen Staaten brutal unterdrückt wird, ist zu bedauern, sondern, dass wir uns selbst der Fähigkeit beraubt haben, sie sinnvoll einzusetzen, unsere Meinung zu relevanten Themen zu äußern, sie zur Veränderung dessen einzusetzen, was es bei uns zu verändern gäbe.

Auflösung:
(2) Diese Rechte finden ihre Schranken in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre.