Tuesday, October 26, 2004

Vögelmusik (revisited)

Musik ist etwas Wundervolles. Niemand weiß eigentlich genau, wie wundervoll. Das Wundervollste an Musik ist, dass sie immer anders ist. Ein und dasselbe Stück kann, in unterschiedlichen Momenten gehört, immer neu sein. Oh Gott, wie banal. Aber richtig.
Ich denke an Sabine. Weiß der Teufel warum, einige Tage vor jenem Abend durchfuhr mich der Gedanke an einen Artikel über Musik, die man beim Vögeln hört. Wer hört was, warum, wie lang, wozu, mit wem, unter welchen Umständen. Diesmal war es wichtig. Ich wollte auf jeden Fall das Richtige auswählen. Nach dem Restaurant waren wir bei mir. Sie war da, bei mir. Sie würde (wahrscheinlich) nicht gleich wieder gehen, wenn ich das Falsche auflegte, aber ich wollte auch kein unnötiges Risiko eingehen. Sie war im Bad. Ganz ruhig. Irgendwie dachte ich mir schon, dass sie länger brauchen würde, weiß auch nicht warum; ich hatte also Zeit und jede Menge unterschiedlichster Musik im Regal. So schwer konnte das einfach nicht sein. Ja, lächelte ich zu mir selbst, den Bolero hatte ich auch, aber in der Fassung für zwei Klaviere. Scheidet aus. Ich dachte auch, dass, wenn sie eben dieses hören wollte, ich sie vielleicht nach Hause geschickt hätte. Wer weiß. Gut, muss es überhaupt Klassik sein? Warum überhaupt hören Menschen, die Pavarotti noch vor wenigen Jahren für eine Schokoladenmarke hielten, beim Vögeln klassische Musik? Idee: der (potentiell) banale Akt wird durch den (angenommenen) Ewigkeitswert, das populäre Prestige klassischer Musik auf eine zeitlosere, erhabenere Ebene gehoben. Ja, könnte was dran sein, aber das gilt ja nicht für mich, ich höre das ja auch sonst. Aber weiß sie das? Ist das eigentlich wichtig? Delikate Güterabwägung. Was kann ich ihr zumuten. Ich würde so gern etwas von Mozart hören, mein Lieblingsklarinettenkonzert zum Beispiel. Sabine ist inzwischen in die Küche gegangen. „Sag mal, willst du auch noch einen Tee trinken?“
Okay, noch mal von vorn. Hatte ich ihr schon von „Frau zu verschenken“, meinem Lieblingsfilm, mit Gérard Depardieu erzählt, wo eben jenes Klarinettenkonzert eine zentrale Rolle spielt? Und wenn, würde sie sich überhaupt erinnern? Außerdem, wäre es nicht wichtiger und sinnvoller, ich würde langsam mal Kondome suchen? Okay, die sind in der Schreibtischschublade, also wieder zur Musik. Wenn ich sie nur ein wenig länger kennen würde, wüsste ich wahrscheinlich eher, was ihr gefällt, aber so, nach drei Tagen. Halt, hat sie nicht vorhin zwischen Dessert und Espresso von einem Konzert in der Philharmonie erzählt, das ihr so gefallen hat. Was war es doch gleich? Beethoven, irgendein Streichquartett. Na also, da hatte ich doch einiges. Kein spätes, Spaß muss sein. Doch andererseits... Wir werden schließlich gleich im Bett liegen, und das erste Mal wilden, wunderschönen Sex miteinander erleben. Ich wusste nicht, ob ich ihr am nächsten Tag noch die Marmelade beim Frühstück reichen wollte, aber die Option dazu sollte man sich schon erhalten, man weiß ja nie. Also, noch mal. Nein, Beethoven hört man, wenn man mindestens drei Monate zusammen ist, den Eltern des Anderen bereits vorgestellt wurde, und man weiß, dass man auch Sylvester zusammen verbringt. Soweit ist es einfach noch nicht. „Hast Du noch Brot da? Ich hab’ gerade Hunger bekommen, ich weiß auch nicht warum.“
Der größte Fehler wäre auf jeden Fall, ihr mit der Musik eine Liebeserklärung zu machen. Damit scheidet schon mal eine ganze Menge aus. Keine sanften Soul Hits, obwohl Roberta Flack bei meinem Karnevalsabenteuer Claudia große Wirkung erzielte (ganz unerwartet). Doch auf der anderen Seite, konnte man wirklich davon ausgehen, dass sie überhaupt darauf achtet, was Barry White so von sich gibt? Ging es nicht vielmehr um den flauschigen Instrumentalhintergrund; sollte ich es nicht fertig bringen, vermittels einiger häufig erprobter erotischer Taschenspielertricks sie vom Text der Musik ab- und zum wesentlichen hinzulenken? Also vielleicht besser gar keine Musik? Unsinn. Es geht ums Prinzip, die Herausforderung. Es kann doch nicht angehen, dass ich nichts passendes finde. Habe ich vielleicht zuviel Auswahl? Nein, ich brauchte nur eine Inspiration. In der Küche saßen die beiden schönsten Brüste diesseits des Rheins und verharrten stumm und anbetungswürdig, während der dazugehörige Mund ein Käsebrot aß und die Augen Zeitung lasen. Ich war für kurze Zeit aus dem Gleichgewicht gebracht, und zwang mich zurück zur Anlage. Nein, Klassik wird es nicht. Unweigerlich würde unser Geschlechtsakt etwas Feierliches, Abgeschlossenes bekommen. Geht einfach nicht. Sabine ist erst vierundzwanzig. Sie geht häufig tanzen und hat Freunde, die Djs sind. Wahrscheinlich ist House ihre Religion. Lass mich dein Hohepriester sein, raunte ich in Gedanken den Beinen in meiner Küche zu. Das habe ich aber jetzt gar nicht hier. Was habe ich überhaupt da an neuerer Musik? Genau, meine schöne Erdmöbel -CD. Nein. Sex dazu wäre wie, wie , wie... Fällt mir gar kein Vergleich ein, geht einfach nicht. Sie kommt ins Zimmer, das Käsebrot ist aufgegessen. „Kann ich mal kurz telefonieren?“
Am Samstag zuvor hatte ich noch mit einem Freund über den Orgasmus als Todeserfahrung gesprochen, und dass die Freude am Sex aus der kurzzeitigen Gewissheit erwächst, den Tod überleben zu können (während man aber gleichzeitig immer den Tod vor Augen hat, und man sich immer bewusst ist, dass der wirkliche Tod noch wartet. Trotzdem gibt sich ein jeder Mensch immer wieder gerne der Selbsttäuschung hin. Na ja.). Die Musik, die man vögelnderweise hört, wird so, ob gewollt oder nicht, gleichsam zum Requiem. Mit der richtig ausgewählten Musik müsste es doch zu schaffen sein, die existentielle Erfahrung des Orgasmus beträchtlich zu intensivieren, Tod hin, Tod her. „Schon möglich“, sagte mein Freund, „aber welche Musik sollte das sein?“ Das Gespräch war an einen toten Punkt gekommen, wir waren auch schon zu betrunken. Im Taxi überlegte ich, dass die Auswahl der Musik natürlich davon abhing, ob ich sie für eine oder mehrere Nächte wollte. Mit wem telefoniert Sabine eigentlich um diese Zeit? Also. Vor der endgültigen Festlegung auf die Musik muss ich mir selbst die Frage beantworten, was ich eigentlich von ihr will. Nun. Sie sieht unvergleichlich atemberaubend aus, ist klug und ich wollte sie (und mich) in jeder Nacht glücklich machen. Alles andere spielte eigentlich keine Rolle. Aha, sagte mein fieses Über-Ich, so ist das, das ist alles, wie wäre es mit irgendeiner Frank Sinatra - Schnulze? Nein, wie gesagt, ich weiß es einfach noch nicht, vielleicht wache ich morgen neben ihr auf und will sie heiraten, kann doch sein.
Denk doch mal nach, sagte es in mir. Du bist ja nun nicht gerade zum ersten Mal in dieser Situation, wie war es denn bisher? Hm. Immer anders. Ich habe mir da nie so wahnsinnig viele Gedanken drüber gemacht. Mal gab es Debussy, mal James Taylor, einmal wurde sogar Jacques Brel gewünscht, hatte ich keine Probleme mit. Sogar irgendeine Oper lief schon mal nebenbei, aber welche Auswirkungen das jetzt so konkret hatte, keine Ahnung. Egal, irgendwas stecke ich jetzt in den CD - Player. Ich habs ! „Lisboa. A soundscape portrait“ Eine ganze Stunde nur mit Straßengeräuschen aus Lissabon. Das ist genial. Das reicht von der Zeit. Ja? Oh Gott, nein, in Lissabon war sie im Sommer doch mit ihrem Ex -Freund. Ich werde gleich wahnsinnig, ganz bestimmt. „Hast Du eine Zahnbürste für mich?“
In mir gärt die Erinnerung an eine wunderbare Nacht. Katja. Ich habe sie nach Hause gefahren. Wir saßen eine dreiviertel Stunde im Auto und ich versuchte sie zu überzeugen, dass es doch total unsinnig sei, dass sie nicht mir schlafen wolle, weil ich „zu nett“ sei. Das sei doch ungerecht. Das sah sie irgendwann ein (oder auch nicht, es war ihr vielleicht einfach zu kalt im Auto). Katjas Wohnung hatte die letzten Jahrzehnte kultureller Entwicklung unbeschadet überstanden, ein museal konserviertes Jugendzimmer. Sie erzählte mir von ihrer Defloration, die ungefähr zwanzig Jahre zurücklag und welche Musik sie damals gehört hatte. „Nights in white satin“ von Moody Blues oder Pink Floyd’s „Wish you were here“, eins von beiden. Tja, das mag nicht der Gipfel der Poppmusikgeschichte gewesen sein, aber irgendwie gefiel auch mir der Gedanke, sich vermittels dieser Musik noch einmal als Vierzehnjähriger zu fühlen, nur dass es eben nicht beim Petting bliebe. Sie legte die Platte auf, und nach drei Minuten war der ganze Zauber vorbei. Sie wollte nicht mehr. Wir lagen nebeneinander und sie las mir aus ihrem Tagebuch vor. Es war wirklich zum Heulen.
Sabine lag inzwischen im Bett. „Was machst Du da eigentlich die ganze Zeit?“ „Ach, ich suche nur noch irgendwelche Musik.“ „Aha.“ „Irgendeinen besonderen Wunsch?“ „Nee.“ Die Situation geriet langsam außer Kontrolle. Ich machte eine gedankliche Notiz. Bis zur nächsten Frau wollte ich eine Kassette aufnehmen. Das Problem bestand schließlich auch darin, dass die verschiedenen Präliminarien des Verkehrs ihre eigene Beschallung forderten. Denn für das Vorspiel vor dem Vorspiel ist Barry White schon ziemlich unübertroffen. Ich sah mich um, Sabine lächelte mich an, in liebenswertem, wenn auch leicht überheblichem Einverständnis. „Weißt du übrigens, wie man die Preisschilder von den CDs gut abbekommt?“ „Nein“ „Mit einem Fön.“ „Aha.“ Nach Barry White bräuchte es etwas handfesteres. Lenny Kravitz, Prince zum Beispiel, auch gut als Blasmusik. Der abrupte Wechsel zu Mahlers Auferstehungssymphonie würde mich nicht schrecken, das Spiel könnte beginnen. Danach aber musste ein gewisser Rhythmus her, ich dachte an was aus Stevie Wonders Innervisions. Ja, das würde es tun. „Hast Du dich denn jetzt bald mal entschieden“ Mein Gott, was mache ich hier. Es durchzuckte mich der schöne Satz vom Künstleragenten Machetu in Anouilhs „Der Herr Ornifle“: „Mit einer schönen Frau ist es wie mit einer guten Suppe, man darf sie nicht kalt werden lassen.“ Genau das tat ich aber gerade. „Soll ich dir vielleicht helfen?“ Sie stieg aus dem Bett, hockte sich neben mich, gab mir einen Kuss aufs Ohr und zog eine Kassette mit Stevie Wonders Innervisions aus dem Stapel, den ich bereits auf dem Boden gebildet hatte. Wir sahen uns an und ich merkte innerhalb von zwei Sekunden, dass es mir nichts ausmachen würde, am nächsten Tag ganz früh aufzustehen, um Brötchen zu holen. Ich wollte schnellstens ihre Eltern kennen lernen, und die nächsten fünfzig Sylvester mit ihr verbringen. Wir hörten Stevie Wonder. Nach einigen Minuten gab es Bandsalat im Tape Deck, was aber nicht wirklich schlimm war.

2 comments:

Anonymous said...

Du übertreibts. Aber-witzig. Bin ich froh, das ich da draussen nicht mehr frei herumlaufen muß. Was für ein Streß. Eine Sache an dieser Geschichte kann aber nicht stimmen: eine Frau mit 24 Jahren kann unmöglich Sabine heißen. So heißt man in dem Alter nicht. Wie, weiß ich auch nicht, aber nicht so. So heißt man, wenn man Ende 30 ist. Das schreibst Du nur, um mich zu ärger, damit es ab jetzt dann auch noch eine Sabine mit der 7, oder sind wir schon bei 8, geben wird.
Wie auch immer, ich bitte um Fortsetzung dieses Themas bei Gelegenheit und natürlich, bei bemerkenswerten Ereignissen.

dandyel said...

Hast Recht, Sabine heißt keine 24jährige. Allerdings ist diese - im übrigen fiktive - Geschichte auch schon neun Jahre alt, so dass angesprochene Sabine heute immerhin schon 33 wäre. Im Jahr 1971 aber war Sabine immerhin der achtbeliebteste weibliche Vorname (der beliebteste war Nicole, gefolgt von Tanja und Claudia; bei den Jungen: Michael, Stefan und Sven. [Sven???]) So unwahrscheinlich wäre das jetzt somit nicht gewesen, dass man eine Sabine hätte mit nach Hause nehmen dürfen. Danke aber für die konstruktive Kritik, für die ich immer offen bin.